Die PR-Fachfrau Kerstin Hoffmann hat zu einem „Jahr der ungewöhnlichen Formulierung“ aufgerufen. Sie will damit anregen, dass wir weniger Platitüden, weniger Worthülsen verwenden. Gerade im Bereich der Behinderung gibt es davon genug, wenn wir beispielsweise sehen, dass viele Querschnittgelähmte angeblich an ihren Rollstull „gefesselt“ sind. Und in zahllosen Presseberichten liest man auch heute noch, dass Menschen „an einer Behinderung leiden“, ohne dass hinterfragt wird, ob die Menschen denn wirklich daran „leiden“ – oder sie einfach nur „haben“. (Wie es besser geht, habe ich ja schon mal hier beschrieben.)
Überhaupt gibt es im sprachlichen Umgang mit dem Thema Behinderung offenbar viele Fallstricke. Nehmen wir an dieser Stelle nur mal die Unternehmen, aus deren Produkten sich das Sortiment von entia zusammensetzt: Die Dinge kommen aus „Behindertenwerkstätten“. Jetzt weiß zwar jeder was gemeint ist, aber leider ist das Wort völlig veraltet. Tatsächlich gab es bereits etliche unterschiedliche Bezeichnungen für diese Betriebe – und es ist ein (sprachliches) Lehrstück, aus welchen Gründen immer wieder neue Umschreibungen ge- und erfunden wurden, ohne dass man bislang am Ziel angekommen ist.
Die damals sogenannte Blindenanstalten waren vielleicht die ersten Einrichtungen, in denen speziell Menschen mit Behinderung Arbeit fanden. Meist entstanden solche Häuser in der Initiative von Einzelpersonen, nicht selten waren es kirchlich geprägte Menschen. Im 19. Jahrhundert gab es die „Krüppelfürsorge“ – aber schon damals war „Krüppel“ ein negativ besetztes Wort. Auch in den Irrenhäusern wurden Menschen zunehmend zur Arbeit angehalten, allerdings weniger zu therapeutischen oder rehabilitativen Zwecken. Immerhin gab es den Begriff „Krüppel“ erschreckenderweise in der medizinischen Literatur als Fachbegriff bis in die zweite Hälfte des 20.Jahrhunderts. Die Kriegsversehrten des Ersten Weltkriegs waren es, auf deren Drängen hin der Begriff „Krüppel“ durch „Behinderte“ ersetzt wurde.
Welch unsägliches Leid die Nazi-Zeit über Menschen mit Behinderung brachte, ist ein Thema für sich, das ich hier nicht vertiefen möchte.
Wir sind nur sehr froh, dass insbesondere Eltern nach dem Krieg aktiv wurden um neue Wohn- und Arbeitsmöglichkeiten für ihre Kinder zu schaffen. In elterlicher Fürsorge wurden die ersten Betriebe dann Beschützende Werkstätten genannt. Tatsächlich gibt es auch heute noch genug Einrichtungen, die sich so nennen. Vielen Menschen wurde der Begriff unangenehm – stellt er doch das Behüten nicht in den Vordergrund, nicht die Leistung, nicht das Produkt und eben auch nicht dem Menschen.
Mit dem Wort Behindertenwerkstatt, eingeführt in den 70er und 80er Jahren des 20.Jahrhunderts, stellte man den Menschen scheinbar wieder in den Mittelpunkt. Scheinbar – denn in Wirklichkeit stellte man nun die Behinderung nach vorne.
In den 90ern wurde deshalb der Begriff Werkstatt für Behinderte eingeführt, mit der Abkürzung „WfB“. (Auch hier haben viele Betriebe diese Bezeichnung bis heute beibehalten.) Aber auch bei dieser Benennung wurde den Beteiligten schon nach wenigen Jahren klar, dass dies keine glückliche Wahl war. Die „Behinderten“ selbst emanzipierten sich nämlich zunehmend von diesem Begriff, denn er stellte die Behinderung des Menschen in den Vordergrund. Tatsächlich ist die Behinderung ja aber nur einer von vielen Aspekten eines Menschen und keineswegs der bestimmende.
Der Gesetzgeber führte nach langen Beratungen im Jahr 2001 deshalb der Begriff Werkstatt für behinderte Menschen, WfbM, ein. Dies ist bis heute der formal richtige Begriff. Die inhaltlich verständliche Änderung des Namens führte zu denkwürdigen Auswüchsen. Der Verband der anerkannten Werkstätten nennt sich beispielsweise BAG:WfbM = „Bundesarbeitsgemeinschaft der Werkstätten für behinderte Menschen“. Eine so lange Bezeichnung ist einfach in der Praxis schwer handhabbar.
In der Praxis wurde aber auch dieser Name schon wieder abgelöst von der Bezeichnung Werkstatt für Menschen mit Behinderung. Denn auch bei „behinderten Menschen“ steht die „Behinderung“ immer noch zu sehr im Vordergrund.
Ist damit eine abschließende Lösung gefunden? Vermutlich nicht – hoffentlich nicht! Denn aus verständlichen, guten Gründen wurde aus der Bezeichnung im Laufe der Zeit ein Wortungetüm, das meist nur von Menschen verwendet wird, die einen näheren Bezug zu den Werkstätten haben. Tatsächlich wird entia von den meisten Besuchern gefunden, weil sie „Behindertenwerkstatt“ in das Suchfeld von Google eingegeben haben. Soll heißen: Die (aktuell) korrekte Bezeichnung hat sich mittlerweile schon sehr weit vom geübten Sprachgebrauch der meisten Menschen in Deutschland entfernt.
Es funktioniert also nicht immer, eingestanzte Wörter durch modernere, bessere Wörter zu ersetzen. Sprache ist ein lebendiges Ding. Und so ist die „Werkstatt für Menschen mit Behinderung“ ein spannendes Beispiel dafür, wie sich die Wörter den Gegebenheiten und den Zeiten anpassen (müssen). Schon jetzt sind viele Menschen erneut dabei, ein neues Wort zu suchen. Einer der Vorschläge ist Sozialunternehmen. Ich persönlich finde den Begriff sehr gut, auch wenn er einen viel weiteren Bereich als nur den der Werkstätten für Menschen mit Behinderung umspannt. Auch Unternehmen, die Langzeitarbeitslose an den Ersten Arbeitsmarkt zurückführen, sind „Sozialunternehmen“. Der Begriff ist viel eingängiger – aber dafür weniger präzise. Und wenn er sich tatsächlich durchsetzen sollte – wird es dann der letzte Name sein? Vermutlich nicht.
Meine Gedanken hierzu:
Jedes Unternehmen ist sozial, oder gibt es etwa Nicht-Soziale-Unternehmen oder gar Unsoziale. Es ist für mich eher der krampfhafte Versuche unbedingt einen schön klingenden, nicht diskriminierenden Oberbegriff finden zu wollen und erzeugt damit doch immer mehr nichtssagende Ausdrücke.
Es sind einfach Werkstätten oder Unternehmen die Produkte herstellen und deren Mitarbeiter dort zur Arbeit gehen, weil Sie Ihren Lebensunterhalt bestreiten wollen/müssen. Diese Unternehmen haben dann einen Firmennamen und eine Gesellschaftsform wie andere auch. Und wenn ich im gesellschaftlichen oder rechtlichen Kontext dann unbedingt einen spezifizierten Begriff benötige, dann muss ich eben von Behindertenwerkstätten sprechen und alle wissen was gemeint ist. Wie sagten Sie doch: Ein Tisch ist ein Tisch!
Pingback: Willkommen im Jahr der ungewöhnlichen Formulierung! - Aktion und Blogparade - PR-Doktor