Recht statt Gerechtigkeit: Von KundInnen, die nicht zahlen müssen

Heute möchte ich mal aus dem Nähkästchen plaudern, über Interna bei entia, die uns hin und wieder bewegen. Denn heute erhielt ich eine Überweisung über eine offene Bestellung vom 16.12.2013 über 99,40 Euro. Darüber habe ich mich sehr gefreut.

Eigentlich sollte das eine Selbstverständlichkeit sein, kein Grund für besondere Freude; In einigen Fällen ist es es aber doch – wenn wir nämlich mal wieder einen ganz besonderen Kunden hatten, nämlich einen Menschen, der nicht geschäftsfähig ist und deshalb eigentlich nicht bestellen darf, es aber dennoch tut, weil niemand ihn hindern kann – und darf. Und wenn dabei ein Schaden entsteht – wer trägt diesen?

Naturgemäß haben wir von entia viel Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung oder anderen Beeinträchtigungen zu tun. Wie schon in vielen Beiträgen auch in diesem Blog nachzulesen, mögen wir es nicht, den Blick auf diese Menschen nur auf ihre Defizite zu reduzieren. Im Gegenteil: Sie regen dazu an, sich mehr Gedanken über die Fähigkeiten und Talente der Menschen insgesamt Gedanken zu machen. Ich selber habe viele Freunde und Bekannte, die nach landläufiger Meinung als behindert bezeichnet werden.

Früher wurden Menschen, die eine gewisse Tragweite ihrer Entscheidungen nicht überblicken konnten, „entmündigt“. Die Rechte der Menschen, die eine geistige Behinderung hatten, oder auch Trunksüchtige, Verschwendungssüchtige odere andere wurden quasi vollständig auf Betreuer übertragen, den „Vormund“. Die somit vorgegebene Geschäftsunfähigkeit der Menschen führte beispielsweise auch dazu, dass sie nicht mehr heiraten durften. Natürlich war diese Situation nicht menschenwürdig, denn sie erlaubte dem jeweiligen Menschen nahezu keine freien Entscheidungen mehr.

1992 gab es dann glücklicherweise eine Gesetzesänderung. Die Situation wurde nahezu umgekehrt: Zunächst einmal hat grundsätzlich jeder Mensch die gleichen Rechte, Entscheidungen zu treffen. Punkt. Allerdings kann ein Gericht auf Antrag feststellen, ob dies für alle Bereiche seines Lebens gilt. Unterschieden in einzelne Bereiche kann das Gericht festlegen, ob etwa bei medizinischen Fragen, finanziellen Themen oder der Frage des Wohnortes ein Betreuuer bestellt wird, der Entscheidungen des jeweiligen Menschen noch zustimmen muss, damit sie gültig werden. Dies nennt man einen Einwilligungsvorbehalt.

Schön, und was hat das nun mit entia zu tun? Es gibt eben Menschen, die dürfen ohne Zustimmung ihres gesetzlich bestellten Betreuers keine Verträge abschließen. Das ist auch gut so, denn man möchte ja eben verhindern, dass obskure Gestalten diesen Menschen beispielsweise einen Handy-Vertrag aufschwatzen. Oder ein Abonnement oder was auch immer. Dann sagt der Betreuer nachträglich „Nein!“ und damit hat es nie einen Vertrag gegeben.

Das leuchtet ja unmittelbar ein. Aber nun kann ein Mensch ja auch im Internet Dinge bestellen, was rechtlich eben genauso einen Vertragsabschluss darstellt. Dass ein Mensch das eigentlich nicht durfte, erfahren wir von entia erst wenn wir nach mehreren sehr kulanten Erinnerungs- und Mahnungen  anfangen, die nächste Schritte einzuleiten. Also Strafanzeige stellen, ein Inkasso-Büro beauftragen oder ein gerichtliches Mahnverfahren einleiten.

Ein Beispiel: Ein Mann aus Nürnberg bestellt vor Weihnachten einen Adventskranz und einige Bienenwachskerzen sowie diverse Spielwaren auf Rechnung im Wert von rund 150 Euro. Das ist nicht ungewöhnlich. Bis wir nach längerer Zeit eine Rückmeldung des Inkasso-Unternehmens erhalten, das man „in diesen Fällen“ sofort die Bearbeitung beende. Bezogen war dies Statement auf ein Schreiben einer gesetzlich bestellten Betreuerin mit dem Inhalt, dass ihr Klient nicht geschäftsfähig sei. Dem Schreiben sah man sofort an, dass es offensichtlich einer Vorlage entsprang, die sie vermutlich öfter verwendet. Es wurde gleich sehr formell auf verschiedene Paragrafen und auf die Aussichtslosigkeit einer rechtlichen Verfolgung hingewiesen. Als ich die Betreuerin direkt ansprach und frug, wo denn die bestellten Waren seien, antwortete sie, dass sich ihr Klient daran nicht mehr erinnern könne.

Also musste ich mich als Nicht-Jurist erst mal schlau machen. Und siehe da: Es stimmt tatsächlich. Ein Mensch, für den ein Einwilligungsvorbehalt  besteht, darf in einem Internet-Shop nichts ohne Einwilligung bestellen. Wenn er es dennoch tut – und das lässt sich in der Praxis ja nicht verhindern – dann ist das Geschäft nichtig, ohne dass der Händler dies zuvor wissen könnte. Wenn nun die bestellten Waren verbraucht, vernichtet oder sonstwie verschwunden sind, wer hat dann Pech gehabt?

Der Händler oder die Händlerin. In diesem Fall also wir, entia.

Natürlich kann man den Menschen, der bestellt hat, nicht belangen, das verstehe ich vollkommen. Ich würde auch nicht auf die Idee kommen, diesen Menschen einzuschränken, etwa indem man ihm/ihr den Internetzugang versagt. Informationsfreiheit ist nunmal ein Grundrecht – für alle! Mit den BetreuerInnen war ich hingegen nicht immer wirklich glücklich, der  Tonfall der Schriftstücke ist meist sehr formell – und auch eher lapidar, nach dem Motto: So ist das eben.

Könnte nicht die gesamte Gesellschaft für ein solches Verhalten einstehen? So nach dem Motto: Er ist einer von uns, und wenn durch sein Verhalten ein Schaden entsteht – wofür er ja nichts kann – so werden wir den Schaden gemeinsam tragen. Auch darüber kann man streiten. Aber ist es gerecht, dass nun HändlerInnen, die den Vertragsabschluss ja nun auch nicht ausschließen und verhindern können, den alleinigen Schaden tragen?

Ich meine: Nein!

Aber so ist das nunmal. Der Gesetzgeber hat wissentlich und willentlich und unzweideutig beschlossen, dass in diesem Fall nun mal der Händler/die Händlerin den alleinigen Schaden hat. Basta. Recht und Gerechtigkeit sind nunmal bisweilen zwei verschiedene Dinge.

Und was war nun mit den 99,40 Euro, die ich eingangs erwähnte? Ich bekam dieser Tage ein Schreiben vom Jugendamt in Jena, zwei Seiten, sehr ausführlich und detailliert. Darin wurde ich  darauf aufmerksam gemacht, dass eine Forderung an Herrn XY keinerlei Chance auf Begleichung habe, denn der Schuldner habe seinen dritten Geburtstag noch nicht gefeiert und sei im übrigen in der Betreung eben jenes Jugendamtes. Die Mutter des Jungen sei vermutlich eher meine Ansprechpartnerin. Allerdings sei auch diese unter gesetzlicher Betreuung.

Na prima…

Nun wusste ich zwar, was mich erwartet, aber es fällt mir doch schwer, solche Ungerechtigkeit einfach auf sich beruhen zu lassen. Also habe ich doch den Betreuer der Mutter angeschrieben und ihm die Sachlage (absolut sachlich) geschildert. Und was ergab sich daraus: Seine Klientin hat das Geld überwiesen.  Auf Kulanzbasis sozusagen.

Fazit:

Es ist schön bisweilen zu erleben, dass Gerechtigkeit herrscht, wo sonst nur Recht walten würde. Dass der Gesetzgeber nun offensichtlich schuldlosen Menschen oder Unternehmen einen Schaden überlässt, für den eigentlich niemand so richtig etwas kann, finde ich eine Ungehörigkeit.

Und: In den Medien wird gerne und ausführlich über dubiose oder gar verbrecherische Internet-Shops berichtet. Aber was seriöse und ehrliche Internet-Shops alles so erleben, ist eher nie einen Bericht wert.

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