Wie belegt man Nachhaltigkeit ohne Prüf- und Gütesiegel?

Belege es!“, sagt Sabine.

Ich habe ja dieser Tage geschrieben, wie ernst wir das mit der Nachhaltigkeit bei entia nehmen. Aber wie lässt sich Nachhaltigkeit (und der Wille dazu) beweisen?
In einem sehr angeregten Gepräch hat mich Sabine, Fachfrau für PR und Nachhaltigkeit, dieser Tage aufgefordert, das mit der Nachhaltigkeit bei entia doch bitte zu belegen.

Oha!

Das Thema „Soziale Nachhaltigkeit“ ist ja noch sehr einfach zu erklären: Alle Mitglieder in einer Gesellschaft an deren Entwicklung und Tun teilhaben zu lassen, ihnen Verantwortung und mit der Arbeit Würde zu geben – das ist soziale Nachhaltigkeit in Reinkultur. Muss man bei einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung wohl nicht hinterfragen, oder?

Aber wie ist das mit der Nachhaltigkeit bei den Produkten?

Wie war das früher für engagierte Frau, als sie den Bio-Laden in der umgebauten Scheune aufmachte und dort frische Milch und Dinkel-Brot verkauft hat? Hat jemand nach einem Beweis gefragt? Der Eine-Welt-Laden hinter der Kirche – kam das ganz wirklich den armen Menschen in Südamerika zugute?
Je mehr Läden es wurden, desto häufiger stellte sich die Frage, ob denn das alles mit rechten Dingen zuging. Nur weil es aus Afrika kommt, ist es ja nicht gleich automatisch fairer Handel. Und nur weil die Milch frisch gemolken ist, ist sie noch lange nicht „bio“. Der zunehmenden, hinterfragenden Kritik begegnete die Betreiber zunächst mit wachsender Nervosität, aber die Rettung kam geschwind: Zertifikate, Ökolabels, Prüf- und Gütesiegel! Es gibt sie für Lebensmittel, Spielzeug, Textilien, Hölzernes, Treibstoffe, Baumaterial etc. Es wird auf Schadstoffe, Hautverträglichkeit, Herstellungsverfahren, CO2-Ausstoss, die Einhaltung von Sozialstandards, biologische Abbaubarkeit und vieles mehr geprüft. Ich habe eine Seite im Netz gefunden, die ganze 400 unterschiedliche Label auflistet!

So, und jetzt kommt entia dran:

Kommt das Holz vielleicht aus dem Urwald…? „Ach was“, sagt der Schreiner aus der Behindertenwerkstatt im Bergischen Land, „das kaufe ich als vollständigen Stamm im Sauerland, lasse es im Sägewerk im Nachbarort in Bretter sägen und lagere es dann in unserer Halle.“
Sind die verwendeten Farben für das Spielzeug vielleicht giftig? „Um Himmels Willen“, sagt die Mitarbeiterin der Werkstatt aus dem Allgäu. „Wir benutzen nur speichelfeste Farben von einem deutschen Hersteller – ist doch logisch!“.
Stammt das Leder aus Südamerika und wird in Asien mit Chrom-Chemie gegerbt? „Quatsch“, sagt die Bereichsleiterin aus dem Ruhrgebiet. „Das Leder kaufe ich in der Region und selbstverständlich wird das naturgegerbt – ich lasse doch meine Mitarbeiter nicht mit giftigen Stoffen arbeiten!“

Tatsächlich glaube ich, bin ich sicher, bin ich überzeugt, dass die allermeisten Produkte bei entia sehr hohen Ansprüchen an die Nachhaltigkeit genügen.

„Na super“, sagt Sabine, „dann kannst Du das ja einfach zu jedem Produkt dazuschreiben.“

Eine wirklich gute Idee.
Und dann denke ich an die Frau aus Schweinfurt, die eine halbe Stelle für Marketing und Vertrieb in einer Werkstatt mit 500 Mitarbeitern hat. Mir fällt der Schreinermeister ein, der mir einen Vortrag dazu halten kann, warum er darauf achtet, dass die Maserung im Holz keine Neigung von über 45 Grad haben sollte, wenn man es für ein Frühstücksbrettchen verwenden will, dass wirklich ein Leben lang hält. Ich denke an den Töpfer, der sich sich immer neue, schöne Dinge einfallen lässt und dabei als allererstes im Auge hat, welche Arbeitsschritte von seinen behinderten Mitarbeitern überhaupt geleistet werden können. Ich denke an die Kerzenzieherin, die ihren Mitarbeitern jene Ruhe vermittelt, dass sie wirklich hochwertige (weil absolut blasenfreie) Bienenwachskerzen anfertigen können. Natürlich kommt das Wachs aus der Gegend, es wäre auch gar nicht sinnvoll, billigen Wachs irgendwoher zu importieren, weil es sich eh um ein vergleichsweise hochpreisiges Produkt handelt.

Und diese Leute sehe ich vor meinem inneren Auge an ihrem Schreibtisch sitzen (der zum Teil tatsächlich in der Werkstatt steht), wie sie einen Brief von entia aufreissen und einen entia-Fragenbogen finden, der sie auffordert, je Produkt zu benennen, woher Holz, Farben, Wachs etc. kommen, ob sie irgendwelche Siegel oder Zertifikate haben und so weiter und so weiter.

Puh.

Was das bedeutet?
Nein, es gibt noch kein Prüfsiegel in dieser Art für Behindertenwerkstätten, mit dem sich Nachhaltigkeit beweisen ließe. Es bedeutet also, wir müssten ein eigenes entia-Prüfsiegel entwickeln, mit entsprechenden Kriterien etc.
Nur: Alle oben genannte Zertifikate und Siegel kosten die Nutzer einiges an Lizenzgebühren, denn natürlich bereitet es einen deutlichen Aufwand, Kritierien zu entwickeln, abzufragen, zu prüfen und auf deren Einhaltung zu achten und auch dafür zu sorgen, dass das Siegel nicht missbräuchlich verwendet wird. Ob da gemeinnützig organisierte Werkstätten dafür Geld aufbringen würden? Da sind Zweifel angebracht.

Das alles riecht jedenfalls nach einer riesigen Anstrengung und einer Menge Überzeugungsarbeit, die da zu leisten ist.

„Belege es!“, sagt Sabine.

Hm.
Da werde ich noch mal heftig drüber nachdenken müssen…

Hat noch jemand Ideen dazu? Bitte Anregungen als Kommentar zu diesem Blog-Beitrag posten!

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